Dagmar E. stellte im November 2021 vor:
Iris Wolf

Die Unschärfe der Welt

Erschienen 2020 bei Klett-Cotta
 


Iris Wolff erzählt die Geschichte einer Familie aus dem Banat, deren Bande so eng geknüpft sind, dass sie selbst über Grenzen hinweg nicht zerreißen. Ein Roman über Menschen aus vier Generationen, der Verlust und Neuanfang miteinander in Beziehung setzt. Hätten Florentine und Hannes den beiden jungen Reisenden auch dann ihre Tür geöffnet, wenn sie geahnt hätten, welche Rolle der Besuch aus der DDR im Leben der Banater Familie noch spielen wird? Hätte Samuel seinem besten Freund Oz auch dann rückhaltlos beigestanden, wenn er das Ausmaß seiner Entscheidung überblickt hätte? In „Die Unschärfe der Welt“ verbinden sich die Lebenswege von sieben Personen, sieben Wahlverwandten, die sich trotz Schicksalsschlägen und räumlichen Distanzen unaufhörlich aufeinander zubewegen. So entsteht vor dem Hintergrund des zusammenbrechenden Ostblocks und der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts ein Roman über Freundschaft und das, was wir bereit sind, für das Glück eines anderen aufzugeben.

Von Carsten Hueck · 25.09.2020 DLF

„Die Erinnerung ist ein Raum mit wandernden Türen“ – poetische Sätze wie dieser, der ebenso Auftakt eines Gedichtes sein könnte, sprachlich reduziert und zugleich von nicht sofort auslotbarer Tiefe, finden sich viele in Iris Wolffs neuem Roman „Die Unschärfe der Welt“.

Nicht verstreut, nicht als Sentenz herausposaunt, sondern als eine dem stillen Erzählfluss zugehörige, leise Wellenbewegung, hervorgerufen nur durch den Flügelschlag eines Schmetterlings: Ob solche Bewegung Ergebnis oder Ausgangspunkt weiterer Dynamiken ist, erfährt man beim aufmerksamen Weiterlesen.

Sieben Kapitel, in sich geschlossen, aber miteinander verbunden, sieben unterschiedliche Perspektiven von Figuren, die alle etwas miteinander zu tun haben, bilden den äußeren Rahmen. Schauplatz ist Siebenbürgen und das Banat in der Zeit zwischen der Herrschaft des rumänischen Königs Michael und dem Sturz des Ceaușescu-Regimes. Fast ein ganzes Jahrhundert erzählt Iris Wolff, die 1977 in Siebenbürgen geboren wurde und 1985 nach Deutschland emigrierte, als Familiengeschichte.

Politische Verwerfungen

In jedem Kapitel steht eine andere Generation im Mittelpunkt. Sie neigt sich jeweils vor und zurück. Auch wenn einer der Protagonisten schließlich auf eine Nordseeinsel flieht oder am Ende die Familie in Süddeutschland lebt, bleiben Siebenbürgen und das Banat, das „Land, in dem mehr Schafe als Menschen lebten“, stets der Echoraum, aus dem Gefühle, Bilder und Wahrnehmungen in die Gegenwart deuten. Es ist eben nicht das Celansche „Land, in dem Menschen und Bücher lebten“, sondern eine dörfliche Ödnis, ein raues Randgebiet, von Bergen und Flüssen begrenzt.

Das Wasser ist eines der Motive, die sich in unterschiedlicher Form durch das Buch ziehen. Man kann darin umkommen, es lockt wie die Freiheit, ist gefährlich wie der Tod. Oder umgekehrt. Unterkühlt und in Kristallform, als Schnee, umgibt es die Pfarrersfrau Florentine, die schwanger sich von einem Pferdeschlitten ins Krankenhaus bringen lässt.

Schnee ist auch das erste, überraschende Wort, das ihr Sohn einmal sagen wird. Schneetreiben hält viele Jahre später dessen Tochter dazu an, nach einem gescheiterten Konzertbesuch mit Freunden auf einer bundesdeutschen Autobahnraststätte zu übernachten. Iris Wolff webt viele solcher motivischen Fäden und Anknüpfungspunkte in ihren Text. Sie berichtet auch von den politischen Verwerfungen, den Ausläufern des Zweiten Weltkrieges, den Spitzeln und Folterern der Securitate, von waghalsiger Flucht durch den Eisernen Vorhang, dem Untergang des kommunistischen Systems in Osteuropa.

Klarheit und Konsequenz im Handeln

Aber diese Ereignisse werden nicht als Sensationen wahrgenommen, sondern sind einfach nur Teil der Biografie ihrer Figuren. Die stehen im Mittelpunkt. Ihre Gefühle, ihre Beziehungen, ihre Würde und Eigenart. Ihre Trauer und Sehnsucht ebenso wie ihre Lust und ihre Lebenstüchtigkeit.

Iris Wolff hat einen intimen Roman geschrieben, mit selbstauferlegter Zurückhaltung, tiefernst und sinnlich. Natürlich durchziehen Brüche das Leben der Protagonisten, Kultur-und Klassenunterschiede, politische Verhältnisse und deren Auswirkungen werden dargestellt, auch Gewalt und Verrat.

Aber am Ende spürt man, trotz Unschärfe der Welt – die Schicksal, Zufall, Gott und der Politik geschuldet ist – doch Klarheit und Konsequenz im Handeln der Figuren, eine beinahe sagenhafte Aufrichtigkeit, die vielleicht nur aus diesem Winkel Europas stammen kann, in dem auch Iris Wolff geboren ist. In ihrer Literatur formt sie ihn sanft und souverän zu einem nahen Ort.

Über die Autorin

geboren 1977 in Hermannstadt, aufgewachsen im Banat und in Siebenbürgen. 1985 Emigration nach Deutschland. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Dozentin für Kunst- und Kulturvermittlung. Bis März 2018 Koordinatorin des Netzwerks Kulturelle Bildung am Kulturamt in Freiburg. Mitglied im Internationalen Exil-PEN. Lebt als freie Autorin in Freiburg im Breisgau.

Veröffentlichungen

Halber Stein (2012)
Leuchtende Schatten (2015)
So tun, als ob es regnet (2017)
Die Unschärfe der Welt (2020)

Darüber hinaus Kurzgeschichten und Artikel in Anthologien und Zeitschriften.