Gwen stellte im Oktober 2021 vor:
Toni Morrison
Menschenkind
Erschienen 1989 bei Rowohlt
Original:
Beloved

Sie gab uns ein Morgen
Toni Morrison schrieb für diejenigen, die in einer weißen Gesellschaft aufwuchsen und lernten, ihre eigene Schönheit zu verleugnen. Ein Nachruf.
taz 7.8.2019
Als ich das erste Mal den Roman „Beloved“ (auf Deutsch „Menschenkind“) von Toni Morrison las, war ich überwältigt. Ich erinnere mich nicht, wer ich vorher war, aber danach war ich eine andere Person. Ich habe damals sicherlich nicht alles verstanden, habe das Buch lange nicht begreifen können und hadere stellenweise immer noch damit. Aber die Geschichte einer Mutter, Sethe, die ihr eigenes Kind ermordet, um es vor der Sklaverei zu retten, erschütterte mich, prägte mich und begleitet mich bis heute.
Sethe ist eine herausragende Figur: stark, entschlossen und unerbittlich. Sie machte mir Angst und war Vorbild zugleich. Lange nachdem ich das Buch weggelegt hatte, hatte ich mir erlaubt zu fragen, ob ich jemals den Mut würde aufbringen können, ein solches Zeugnis zu Papier zu bringen? Die andere Frage – wozu wäre ich bereit, um meine Kinder vor einem Leben in Folter zu schützen – ließ ich absichtlich unbeantwortet, in der Hoffnung, ich würde mir diese Frage nie ernsthaft stellen müssen.
Morrisons ersten Roman „The Bluest Eye“ (deutsch: „Sehr blaue Augen“) las ich einige Jahre später nach „Beloved“. Die Geschichte von Pecola, einem Mädchen, das von ihrer Familie schwer misshandelt wird, machte mich sprachlos. Fast hatte ich vergessen, dass ich als Kleinkind mir auch nichts sehnlicher gewünscht hatte, als blaue Augen und blonde Haare geschenkt zu bekommen – die vermeintliche Lösung für all meine Probleme. Fast hätte ich geglaubt, dass ich mit meinem Schmerz allein war.
Ich hatte in meiner Jugend Bücher leidenschaftlich gelesen, aber mich nie ernsthaft von Emily Brontë, Charles Dickens, Roald Dahl oder Judy Blume als Leserin angesprochen gefühlt – höchstens geduldet. Ich war auf jeden Fall in der Lage, Mitgefühl mit den Figuren ihrer Werke zu empfinden – auch ich verliebte mich in Heathcliff aus Brontës „Wuthering Heights“, und ich verabscheute Mr. Murdstone aus Dickens’ „David Copperfield“. Aber ich wusste auch, dass diese Romane eine Welt porträtierten, von der ich nie einfach nur Teil sein würde. Ich würde, wenn überhaupt, immer an den Rändern bleiben.
Morrison schrieb für Schwarze
Und selbst Bücher wie Ralph Ellisons „Invisible Man“ (deutsch: „Der unsichtbare Mann“) oder Malorie Blackmans „Noughts & Crosses“ schienen sich dezidiert an weiße Leser*innen zu richten. Toni Morrison hingegen schrieb ohne Fußnote, Glossar, Klammern oder sonstige Erklärungen. Sie schrieb für Menschen wie mich: diejenigen, die in einer weißen Gesellschaft aufwuchsen und lernten, ihre eigene Schönheit zu verleugnen; oder diejenigen, die immer wieder daran zerbrechen, dass sie ihre eigenen Kinder nicht vor dem Rassismus schützen können, den sie selbst durchlebt haben.
„Ich schreibe für Schwarze“, bestätigte sie 2015 in einem Interview, „ich muss mich nicht entschuldigen.“ Dass sie diese Haltung in einer so weiß-männlich-dominierten Industrie wie der Literaturlandschaft ihr Leben lang bewahren konnte, ist bemerkenswert. Gleich zu Anfang der Karriere Morrisons wurde sowohl von weißen Literaturkritikern als auch zeitgenössischen Autoren bemängelt, dass sie weiße Subjekte in ihrer Belletristik nicht fokussierte.
„Können Sie sich vorstellen“, wurde sie 1998 in einem Fernsehinterview gefragt, „einen Roman zu schreiben, der sich nicht um race dreht?“ In diesem Kontext kann race als „Blackness“ übersetzt werden. Morrison kritisierte die Frage zu Recht. Eine ähnliche Frage wäre niemals an weiße Autor*innen von weißen Figuren gerichtet worden.
Rassismus war die Lebensrealität ihrer Figuren, jedoch nie Morrisons Thema. Sie machte ihn zum Problem der Weißen
In ihrem phänomenalen Werk „Playing in the Dark“ (deutsch: „Im Dunkeln spielen“) erklärt Morrison, wie problematisch und irreführend die Annahme ist, dass die Arbeit weißer Autor*innen race-free sei. Race-free in diesem Kontext kann als „nicht rassifiziert“ übersetzt werden. In einer Gesellschaft wie die der Vereinigten Staaten, die sich 2019 immer noch schwertut, Strukturen von Rassismus und white supremacy zu erkennen und zu thematisieren, geschweige denn ihnen entgegenzutreten, hatte Morrison sie bereits 1992 beschrieben. Ihre Analysen der Strukturen, die erlauben, dass die weiße Norm unmarkiert bleibt, vor allem die Folgen davon, sind im deutschsprachigen Raum genauso relevant.
Rassismus als immerwährende Hindergrundmusik
Rassismus war allerdings nicht Morrisons Thema. Obwohl Rassismus eine Lebensrealität ihrer Figuren ist, wehrte sie sich dagegen, „Antirassismus“ zum ausschließlichen Fokus ihrer Arbeit zu machen. Sie erklärte ihn – Rassismus – zum Problem der Weißen. „Wenn du nur groß sein kannst, weil eine andere Person auf den Knien ist“, sagte sie, „dann hast du ein ernstes Problem. Und die Weißen haben ein sehr ernstes Problem.“
Rassismus bildet für die Betroffenen eine immerwährende Hintergrundmusik, die kaum zu überhören ist. Weiße Menschen, die etwa behaupten, jene Zeiten wären vorbei, sind dabei, ihn aktiv zu übertönen. Dies führt im besten Fall zu einem Empathiegefälle. Im schlimmsten Fall zur Abwertung, zum Hass, zur Entmenschlichung.
„Die Funktion, die sehr ernste Funktion des Rassismus ist die Ablenkung. Es hält dich davon ab, deine Arbeit zu tun. Es lässt dich immer wieder erklären, warum du so bist. Jemand sagt, dass du keine Sprache habest, und du verbringst 20 Jahre damit zu beweisen, dass du sie hast. Jemand sagt, dass dein Kopf nicht richtig geformt sei, also findest du Wissenschaftler*innen, die an der Tatsache arbeiten, dass er es ist. Jemand sagt, dass du keine Kunst hast, also baggerst du das aus. Jemand sagt, dass du keine Königreiche hast, also schaufelst du das aus. Aber nichts davon ist notwendig. Es wird immer noch eine weitere Sache geben.“
Der Griff der Vergangenheit sitzt fest. Morrison beschäftigte sich sowohl in ihrer Belletristik als auch ihren Essaybänden mit Geschichte und Trauma. Sie zeigte uns, wie fest der Griff der Vergangenheit an unserer Kehle sitzt. Von Morrison habe ich gelernt, mich nicht zu verstellen. Ich bewunderte sie für ihre Haare, weder geglättet noch gefärbt; ich bewunderte sie für ihre Direktheit (nach der Frage, ob sie nicht ihren Platz im Zentrum haben wollte, antwortete sie: „Nun, ich werde hier draußen am Rand bleiben und das Zentrum nach mir suchen lassen!“).
Und jetzt weiß ich, dass das Mädchen, das damals von blonden Haaren geträumt hatte, eines Tages lange graue Afrohaare haben wird. Und ich, als das Mädchen, das sich damals still und schüchtern von den Mitschüler*innen mobben ließ, steht jetzt auch am Rand und kümmert sich nicht weiter um das Zentrum.
In „Beloved“ schrieb sie: „Ich und du, wir haben mehr Gestern als alle anderen. Wir brauchen eine Art Morgen.“ Mit einer Leidenschaft und Virtuosität, die 1993 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, imaginierte sie für Menschen der afrikanischen Diaspora eine Art Morgen.
Toni Morrison, wir vermissen Dich jetzt schon – Ashé!
Du bleibst durch Deine Worte für immer bei uns – Ashé!
Ruhe in Frieden, Queen.
– Ashé! – Ashé! – Ashé!
Über die Autorin
Toni Morrison (eigentlich Chloe Ardelia Wofford; * 18. Februar 1931 in Lorain, Ohio; † 5. August 2019 in New York City[1]) war eine US-amerika-nische Schriftstellerin. Sie zählt zu den bedeutendsten Vertretern der afro-amerika-nischen Literatur und erhielt 1993 als erste afroamerikanische Autorin den Literaturnobelpreis .
Toni Morrison war das zweite von vier Kindern in einer afroamerikanischen Arbeiterfamilie. Ihre Mutter wurde in Greenville (Alabama) geboren und zog als Kind mit ihrer Familie nach Norden. Ihr Vater wuchs in Cartersville, Georgia, auf, und als er etwa 15 Jahre alt war, lynchten Weiße zwei schwarze Geschäftsleute, die in seiner Straße lebten. Toni Morrison sagte: „Er hat uns nie erzählt, dass er Leichen gesehen hat. Aber er hatte sie gesehen. Und das war für ihn zu traumatisch.“ Kurz nach diesem Vorfall zog George Wofford in die rassisch integrierte Stadt Lorain, Ohio, in der Hoffnung, dem Rassismus zu entkommen und sich in der aufkeimenden Industriewirtschaft Ohios eine Erwerbstätigkeit zu sichern. Er arbeitete selbständig und als Schweißer für US Steel. Ramah Wofford war eine Hausfrau und ein frommes Mitglied der African Methodist Episcopal Church.
Als Morrison etwa zwei Jahre alt war, setzte der Vermieter ihrer Familie das Haus in Brand, in dem sie lebten, während sie zu Hause waren, weil ihre Eltern die Miete nicht zahlen konnten. Ihre Familie reagierte auf diese „bizarre Form des Bösen“, indem sie über den Vermieter lachte, anstatt in Verzweiflung zu geraten. Morrison sagte später, dass die Antwort ihrer Familie gezeigt habe, wie man seine Integrität bewahrt und sein eigenes Leben in Anbetracht der Handlungen einer solchen „monumentalen Rohheit“ aufrecht erhalten könne.
Morrisons Eltern vermittelten ihr einen Sinn für Erbe und Sprache, indem sie traditionelle afroamerikanische Volksmärchen und Geistergeschichten erzählten und Lieder sangen. Morrison las auch als Kind häufig; zu ihren Lieblingsautoren gehörten Jane Austen und Leo Tolstoi. Im Alter von 12 Jahren wurde sie katholisch und nahm den Taufnamen Anthony (nach Antonius von Padua) an, was zu ihrem Spitznamen Toni führte.[8] An der Lorain High School war sie im Debattier-Team, im Jahrbuchpersonal und im Theaterclub.
1949 begann sie an der Howard University in Washington, D.C., einer „schwarzen Universität“, Anglistik zu studieren. In dieser Zeit änderte sie ihren Rufnamen von Chloe zu Toni (nach ihrem Mittelnamen Anthony, den sie als Zwölfjährige im Zuge ihrer Konversion zum Katholizismus angenommen hatte). 1953 erwarb sie den Bachelor of Arts in Englisch und 1955 an der Cornell University den Master of Arts. Von 1955 bis 1957 unterrichtete sie Englische Literatur an der Texas Southern University in Houston. 1957 kehrte sie als Dozentin an die Howard University nach Washington zurück. 1958 heiratete sie den jamaikanischen Architekten Howard Morrison, mit dem sie zwei Söhne bekam. Nach ihrer Scheidung 1964 begann sie als Verlagslektorin zu arbeiten. Während ihrer sechzehnjährigen Tätigkeit für Random House (1967 bis 1983) spielte sie eine wichtige Rolle bei der Etablierung der afroamerikanischen Literatur und brachte unter anderem Bücher von Toni Cade Bambara und Gail Jones heraus.
1970 erschien ihr einige Jahre zuvor entstandener erster Roman The Bluest Eye (Sehr blaue Augen). Sowohl dieses Werk als auch Sula (1974) wurden von der Kritik gut aufgenommen, den Erfolg beim Publikum brachte aber erst Song of Solomon (Solomons Lied) 1977. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und handeln überwiegend von der Welt schwarzer Frauen.
Ihre Lehrtätigkeit hatte sie schon während ihrer Arbeit bei Random House wieder aufgenommen. 1981 wurde sie in die American Academy of Arts and Letters, 1988 in die American Academy of Arts and Sciences und 1994 in die American Philosophical Society[10] gewählt. 1989 wurde sie zur Professorin für Geisteswissenschaften ernannt und hatte bis zu ihrer Emeritierung 2006 einen Lehrstuhl an der Princeton University inne.
Toni Morrison starb am 5. August 2019 im Alter von 88 Jahren.